Donnerstag, 21. November 2013

Sehnsucht




Obwohl wir Gott nie gesehen haben, sind wir wie Zugvögel, die an einem fremden Ort geboren, doch eine geheimnisvolle Unruhe empfinden, wenn der Winter naht, einen Ruf des Blutes, eine Sehnsucht nach der frühlingshaften Heimat, die sie nie gesehen haben und zu der sie aufbrechen, 
ohne zu wissen, wohin.


Ernesto Cardenal

(Das Buch von der Liebe, Peter Hammer Verlag, S. 55)

Bild: © moorhenne  / pixelio.de

Sonntag, 17. November 2013

Hört auf, trunken zu sein, bezaubert von dem unvernünftigen Schlafe!


Ihr Völker, ihr Menschen der Erde! Ihr habt euch der Trunkenheit und dem Schlaf übergeben, der Unwissenheit über Gott. Auf, werdet nüchtern! Hört auf, trunken zu sein, bezaubert von dem unvernünftigen Schlafe! (...) Warum habt ihr euch, ihr Menschen der Erde, dem Tod übergeben? Ihr besitzt doch Macht, an der Unsterblichkeit teilzuhaben. Kehrt um! Ihr seid mit dem Irrtum zusammen unterwegs. Ihr macht mit der Unwissenheit gemeinsame Sache. Trennt euch von dem finstren Licht! Verlasst das Verderben! Nehmt euren Anteil an der Unsterblichkeit!




Aus dem hermetischen Traktat Pimander 

Corpus Hermeticum
(zwischen 100 und 300 n.Chr.)


Mittwoch, 13. November 2013

Lass mich verzweifeln, Gott, an mir, doch nicht an dir!



Lass mich verzweifeln, Gott, an mir,
Doch nicht an dir!
Lass mich des Irrens ganzen Jammer schmecken,
Lass alles Leides Flammen an mir lecken,
Lass mich erleiden alle Schmach,
Hilf nicht mich erhalten,
Hilf nicht mich entfalten!
Doch wenn mir alles Ich zerbrach,
Dann zeige mir,
Dass du es warst,
Dass du die Flammen und das Leid gebarst,
Denn gern will ich verderben,
Will gerne sterben,
Doch sterben kann ich nur in dir.


Hermann Hesse


Ein gefallener Gott, der sich an den Himmel erinnert.




Begrenzt in seinem Wesen, unbegrenzt in seinen Wünschen, 
ist der Mensch ein gefallener Gott, 
der sich an den Himmel erinnert.

Alphonse de Lamartine
(1790-1869)

Poetische Meditationen

Foto: © patano

Samstag, 9. November 2013

Glück


Solang du nach dem Glücke jagst, 
Bist du nicht reif zum Glücklichsein,
Und wäre alles Liebste dein.

Solang du um Verlornes klagst
Und Ziele hast und rastlos bist,
Weißt du noch nicht, was Friede ist.

Erst wenn du jedem Wunsch entsagst,
Nicht Ziel mehr noch Begehren kennst,
Das Glück nicht mehr mit Namen nennst,
Dann reicht dir des Geschehens Flut
Nicht mehr ans Herz, und deine Seele ruht. 


Hermann Hesse



Entfaltung des Wesentlichen



Wahre Worte sind nicht schön,
schöne Worte sind nicht wahr.

Tüchtigkeit überredet nicht,
Überredung ist nicht tüchtig.

Der Weise ist nicht gelehrt,
der Gelehrte ist nicht weise.

Der Berufene häuft keinen Besitz auf.
Je mehr er für andere tut,
desto mehr besitzt er.
Je mehr er anderen gibt,
desto mehr hat er.

Des Himmels Sinn ist fördern, ohne zu schaden.
Des Berufenen Sinn ist wirken, ohne zu streiten.


Tao Te Ching  - Das Buch des Alten vom Sinn und Leben   (81) 
 (in der Übersetzung von Richard Wilhelm)

Quelle

Montag, 4. November 2013

Das "Nichts" - eine Interpretation von Meister Eckhart


In der Predigt 71 interpretiert Meister Eckhart das Wort aus der Apostelgeschichte (9,8) " Paulus stand auf von der Erde und mit offenen Augen sah er nichts" 

" Mich dünkt, dass das Wörtlein nihil (nichts) vielfachen Sinn habe. Der eine Sinn ist dieser: als er aufstand von der Erde, sah er mit offenen Augen nichts, und dieses Nichts war Gott…Der zweite: als er aufstand, da sah er nichts als Gott. Der dritte: in allen Dingen sah er nichts als Gott. Der Vierte: als er Gott sah, da sah er alle Dinge als ein Nichts…
Siehst du irgendetwas oder fällt irgendetwas in dein Erkennen, so ist das Gott nicht. Eben deshalb nicht, weil er weder dies noch das ist. Wer sagt, Gott sei hier oder dort, dem glaubet nicht… Wenn die Seele in das Eine kommt und darin eintritt in eine lautere Verwerfung ihrer selbst, so findet sie dort Gott als in einem Nichts.
Es deuchte einem Menschen wie in einem Traum - es war ein Wachtraum-, er würde schwanger vom Nichts wie eine Frau mit einem Kind, und in diesem Nichts ward Gott geboren. Der war die Frucht des Nichts: Gott ward geboren. Daher heißt es in der Apostelgeschichte:"Paulus stand auf von der Erde und mit offenen Augen sah er nichts".

Meister Eckhart

zitiert nach: Niklaus Brantschen SJ,Pia Gyger,Bernhard Stappel, 

Via integralis. Wo Zen und christliche Mystik sich begegnen: Ein Übungsweg ..., Kösel-Verlag



O glückselige Einsamkeit



O beata solitudo - o sola beatitudo 




O glückselige Einsamkeit, o alleinige Glückseligkeit


ein beliebter Ausspruch von 

Bernhard von Clairvaux
(1091 - 1153)

Foto: Quelle

Mit einer demütigen Regung der Liebe


Erhebe dein Herz zu Gott mit einer demütigen Regung der Liebe; meine Gott selbst und keine Seiner Eigenschaften. Empfinde einen Widerwillen davor, an irgend etwas außer an Ihn zu denken, auf dass nichts in deinem Verstande und in deinem Willen wirke als allein Er selbst. Bemühe dich nach Kräften, alle von Gott je erschaffenen Lebewesen mitsamt ihren Werken zu vergessen, damit dein Dichten und Trachten auf keines von ihnen gerichtet sei oder nach ihnen verlange, weder im allgemeinen noch im besonderen. Lass sie in Ruhe und beachte sie nicht. Dies ist das Werk der Seele, das Gott am besten gefällt ... Allen Menschen auf der Erde ist dieses Werk eine wundersame Hilfe, auch wenn du nicht weißt, warum...
Und kein anderes Werk reinigt dich selbst so sehr und macht dich so lauter wie dieses. Dabei ist es von allen das leichteste und am schnellsten zu vollbringende Werk, wenn durch Gnade in der Seele ein spürbares Verlangen entsteht; ohne Gnade freilich ist es für dich zu hart und zu schwer. Gib also nicht auf, sondern gib dir solange Mühe damit, bis du Verlangen danach empfindest. Denn zu Beginn deiner Übung bemerkst du nichts als eine Finsternis, sozusagen eine Wolke des Nichtwissens, genau weißt du nicht, was das ist, außer dass du in deinem Willen ein von allem entblößtes Verlangen nach Gott spürst. Du magst dich bemühen wie du willst, dennoch bleiben diese Dunkelheit und diese Wolke zwischen dir und deinem Gott und hindern dich, Ihn mit dem Lichte deiner geistigen Verstandeskraft in deiner Vernunft deutlich zu erkennen oder in seliger Liebe in deinem Herzen zu spüren. Mache dich deshalb bereit, in dieser Dunkelheit solange wie möglich zu verweilen und immerfort nach dem, den du liebst, zu rufen; denn wenn du Ihn je fühlen oder sehen können wirst, sofern dies hienieden möglich ist, so kann dies doch immer nur in jener Wolke und Dunkelheit geschehen. Wenn du dich indes eifrig in diesem Werk bemühst, so wie ich es dir rate, glaube ich wohl, dass Gott in Seiner Gnade dir diese erwähnte Schau gewährt.



Die Wolke des Nichtwissens  (Kapitel 3)
(Ende des 14. Jahrhunderts)